Reinhard Mey - Lilienthals Traum songtext (lyrics)

[Reinhard Mey - Lilienthals Traum songtext lyrics]

Er weiss
Dass seine Reise hier zuendegehen wird
Auf diesem Feldbett, in diesem Waggon
Er hat sich nie geirrt
Der Arzt und Gustav flüstern und
Sie flüstern über ihn nach Stölln gekommen
Um ihn heimzuholen nach Berlin
Die Räder hämmern auf die Gleise
Bilder ziehen schnell vorbei:
Die Mutter am Klavier
Von ferne Schumanns "Träumerei"
Das Elternhaus in Anklam, Schule
Misserfolg und Zwang
Versteckt in Sommerwiesen mit Gustav
Tagelang dem Flug der Störche nachzuseh'n
Auf schwerelosen Bahnen ihr Aufsteigen
Ihr Schweben zu begreifen und zu ahnen:
Du kannst fliegen, ja, du kannst!
Lass den Wind von vorne weh'n
Breite die Flügel, du wirst seh'n:
Du kannst fliegen, ja, du kannst!



Die ersten Flugversuche
Von den Dörflern ausgelacht
Um den Spöttern zu entgeh'n
Unternimmt er sie nur bei Nacht
Eine neue Konstruktion
Ein neues Flugexperiment
Die Ziffern 4771, sein erstes Patent!
Agnes vor dem Haus im Garten in dem langen
Schwarzen Kleid agnes voller Lebensfreude
Agnes voller Herzlichkeit
Dann Sonntags mit den Kindern
'raus zum Windmühlenberg geh'n
Die Welt im Fluge aus
Der Vogelperspektive seh'n auf riesigen
Baumwollbespannten Weidenrutenschwingen
Sommer 1891 und jetzt wird er es erzwingen!

Du kannst fliegen, ja, du kannst!
Lass den Wind von vorne weh'n
Breite die Flügel, du wirst seh'n:
Du kannst fliegen, ja, du kannst!

Wie die Holme knarren
Wie der Wind in den Spanndrähten singt!
Wie der Flügel überm Horizont
Sanft und adlergleich schwingt!
Wie das Auf und Ab der
Lüfte seine Flugmaschine wiegt!
Seine Beine sind ganz taub
Wie lange er wohl schon so liegt?
Der Doktor kommt aus Rhinow, und er sagt
Ein heft'ger Schlag
Traf den dritten Halswirbel
Was immer das bedeuten mag
Was mag Agnes fühl'n und was die Kinder
Wenn sie es erfahr'n?
Agnes war immer besorgt
Nie ohne Angst in all den Jahr'n
Man kann die Sehnsucht nicht erklär'n
Man muss sie selbst erleben:
Drei Schritte in den Abgrund und
Das Glücksgefühl zu schweben!
Du kannst fliegen, ja, du kannst!
Lass den Wind von vorne weh'n
Breite die Flügel, du wirst seh'n:
Du kannst fliegen, ja, du kannst!

Ein guter Wind aus Ost an
Diesem Sonntag im August
Schon der erste Flug geht
Weit ins Tal hinunter, eine Lust!
Der zweite wird noch weiter gehn
Da reißt's ihn steil empor
Fast steht er still
Wirft Beine und den Oberkörper vor
Der Wind schlägt um
Er bringt den Apparat nicht mehr zur Ruh'
Und senkrecht stürzt er aus dem
Himmel auf die Erde zu
Den Sturz kann er nicht mehr parier'n
Unlenkbar ist sein Verlauf
Mit einem Krachen schlägt er mit
Dem rechten Flügel auf
War's Leichtsinn? War's ein Unglück? War's
Sein eigner Fehler eben?
Nie und nimmer wird er sich
Und seinen Traum geschlagen geben!

Du kannst fliegen, ja, du kannst!
Lass den Wind von vorne weh'n
Breite die Flügel, du wirst seh'n:
Du kannst fliegen, ja, du kannst!

Der Schlaf kommt wie ein guter Freund gut
Dass er jetzt heimkehrt!
Ein erster Schritt zum
Menschenflug, Gott weiss, er war es wert!
Den nächsten werden andre tun
Der Mensch wird irgendwann
Die ganze Welt umfliegen können
Wenn er will, und dann
Wird er sich aus der
Enge der Gefangenschaft befrei'n
Mit allen Grenzen werden alle
Kriege überwunden sein!
Er hört die Kinderstimmen und er spürt
Agnes ist da in dem dunklen Waggon jetzt ist
Er seinem Traum ganz nah:
Er sieht die Störche fliegen
Sieht sich selbst in ihrem Reigen
Frei und schwerelos, durch eigne Kunst
Ins Sonnenlicht aufsteigen!
Du kannst fliegen, ja, du kannst!
Lass den Wind von vorne weh'n
Breite die Flügel, du wirst seh'n:
Du kannst fliegen, ja, du kannst!

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